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Warum habe ich eigentlich Sex?


Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Sex nur dann einvernehmlich ist, wenn alle Beteiligten Lust dabei empfinden. Menschen haben Sex aus allen möglichen Gründen, und Lust ist nur einer davon. Die Voraussetzung für Konsens ist lediglich, dass alle Beteiligten dem, was da gerade passiert, freiwillig zustimmen. Wenn alle Beteiligten zufrieden aus der Begegnung herausgehen, ist es wahrscheinlich, dass Konsens gegeben war - egal ob Lust im Spiel war oder nicht. Welche Faktoren die subjektive Kosten-Nutzen-Bilanz einer sexuellen Begegnung beeinflussen, ist dabei sehr individuell. Für mich ist diese Bilanz in der Vergangenheit manchmal negativ ausgefallen. Ich bin in diesen Fällen dann mit einem unguten Gefühl aus sexuellen Begegnungen herausgegangen, oft ohne genau zu wissen warum. Daher beschäftigt mich seit längerem, welche Motivation meinen sexuellen Erlebnissen eigentlich zugrunde liegt und welche Bedürfnisse ich mit Sex zu erfüllen versuche. Unter Sex verstehe ich sexuelle Handlungen im weitesten Sinne.


Ich bin mit meinen Überlegungen dazu noch nicht am Ende und würde mich übrigens auch sehr über Rückmeldungen und Ergänzungen freuen. Die folgende Liste von Gründen, aus denen ich Sex habe, ist also bestimmt nicht ganz vollständig.


Intensität 

Ich mag diese Bootcamp Workouts, bei denen man sich immer an irgendeinem Punkt durch Schmerz und Erschöpfung kämpft. Ich habe eine Faszination für Partydrogen und Exzess. Ich will irgendwann mal einen Marathon laufen und auf einen richtig hohen Berg steigen. Erlebnisse, die außerhalb meiner Komfortzone liegen, reizen mich. Auch sexuelle Begegnungen, insbesondere solche mit Kink Bezug, können dieses Verlangen nach Intensität stillen. Oder, wie Sophie Passmann in ihrer Pick Me Girls Inszenierung in Bezug auf Kunst so schön gesagt hat: Sie ermöglichen mir, in meinem abgestumpften Millenial-Körper überhaupt mal wieder irgendwas zu fühlen. 


Sexuelle Energie

Ich mag es, die Geilheit einer anderen Person (und meine eigene) zu spüren. Wenn ich über längere Zeit keinen Sex habe, werde ich unzufrieden. Ich brauche offenbar eine Art Grundversorgung mit sexueller Energie, um mich gut und ausgeglichen zu fühlen. Sexuelle Befriedigung scheint für mich allerdings nur bedingt Teil dieser Grundversorgung zu sein: Zurzeit decken meine bezahlten Dates den Großteil dieser Grundversorgung ab, und bei denen habe ich zum Beispiel nur selten Orgasmen. 


Aufmerksamkeit

Dieser Beweggrund für Sex ist der, mit dem ich am meisten hadere: sexuelle Begegnungen mit dem Ziel, meine fuckability zu beweisen. Begehrt zu werden, erregt mich. Ich werde feucht, wenn ich spüre, dass mich jemand so richtig geil findet. Dabei ist es mir dann auch mehr oder weniger egal, ob ich mich selbst zu der Person hingezogen fühle. Es geht mir in erster Linie um Bestätigung. Die Aufmerksamkeit von Männern ist mir dann manchmal wichtiger als alles andere. Danke, liebes Patriarchat. 


Tabubruch 

Manchmal habe ich Sex aus dem gleichen Grund, aus dem ich als Teenager Kaugummis bei Rossmann geklaut und mit 20 einen Sommer lang mit einem Drogendealer zusammen war, den ich in der U9 kennengelernt hatte. Manchmal sind es der Kick des Verbotenen und die Lust am Provozieren, die mich zu sexuellen Erlebnissen motivieren. Meine "Sex gegen Geld" Fantasie zum Beispiel hat ihren Ursprung unter anderem im Reiz des Tabubruchs. Ich bin eigentlich ein sehr angepasster Mensch, im Alltag eher ruhig und unscheinbar. Dieser Kontrast zwischen meiner Alltagspersönlichkeit und meiner Lust am Verbotenen macht es dann für mich umso spannender, mit Tabus zu spielen. 


Druck

Ich brauche keine Zyklus-Tracking-App um zu wissen, wann ich meine fruchtbaren Tage habe. Wenn ich mich beim Workout nicht auf die Erklärungen des attraktiven Coaches konzentrieren kann und dann alle Übungen falsch mache, wenn die Batterien aller meiner Vibratoren leer sind und der Magic Wand mit dem Kabel rausgeholt werden muss, wenn ich mich in der U-Bahn in Tagträumen über Orgien verliere und abends spontane booty calls absetze, dann weiß ich, dass es mal wieder so weit ist: Mein Eisprung steht an. Ich habe generell eine hohe Libido und häufig Lust auf Sex, aber dieses Gefühl von Druck kenne ich nur aus den Tagen rund um meinen Eisprung. Sex zu haben ist dann ein Gefühl von Erleichterung. 


Lust

"Echte" Lust auf Sex verspüre ich meistens nur, wenn ich mich auf der submissiven Seite eines Machtgefälles befinde. Das bedeutet nicht, dass Sex ohne Machtgefälle für mich nicht befriedigend sein kann. Aber reines sexuelles Verlangen ist für mich sehr stark verknüpft mit meiner devoten und masochistischen Neigung. Masturbation funktioniert für mich zum Beispiel ausschließlich mit submissiven Fantasien.


Geld

Im Rahmen eines bezahlten Dates habe ich manchmal Sex obwohl ich selbst gerade keine große Lust darauf habe. Die Person, die mich bezahlt, wünscht sich Sex, also mache ich mit. Das ist nicht so schlimm wie es sich anhört. Sex für Geld kann genauso konsensuell sein wie Sex aus Liebe oder Sex zum Zweck der Fortpflanzung, solange ich freiwillig entscheide, dass ich der anderen Person ihren Wunsch gern erfüllen möchte und unser Tauschhandel für mich insgesamt eine positive Bilanz hat. Sex gegen Geld hat nichts mit Zwang im Sinne von Unfreiwilligkeit zu tun: Auf meinen "normalen" Job habe ich auch manchmal keine Lust und mache ihn dann trotzdem.


Körperkontakt

Eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen ist, am Wochenende morgens zu meinen Eltern und meinem Bruder ins Bett zu krabbeln, mich in die Mitte zu legen und mir den Rücken streicheln zu lassen. Familienkuscheln hieß das bei uns und ich habe es geliebt. Als Teenager habe ich dann viel mit meinen Freundinnen gekuschelt und irgendwann nur noch mit meinen jeweiligen Partnern. Als dann Jahre später in meiner sexlosen Ehe der Körperkontakt auf ein absolutes Minimum geschrumpft war, habe ich mich oft sehr nach Berührung gesehnt. Sex ist für mich ein Weg, den Körperkontakt zu bekommen, den ich brauche. Ich liebe es, mich nach dem Sex an einen Partner anzukuscheln, nackte Haut auf nackter Haut zu spüren. Aber ich versuche auch neue Wege zu finden, mein Verlangen nach zärtlicher Berührung und Geborgenheit zu stillen: Massagen, Kuscheltherapie (it's a thing), mein Kind im Arm halten, FreundInnen umarmen. Streicheln, halten und gehalten werden, den Puls und die Atmung einer anderen Person spüren - dafür braucht es nicht unbedingt immer eine sexuelle Ebene. 


Intimität 

Sex mit einer Person, der ich mich sehr nahe und verbunden fühle, hat eine ganz besondere Qualität. Ich liebe dieses Gefühl, in den anderen hineinkriechen zu wollen, einander so nahe wie möglich sein zu wollen. Sex kann Intimität schaffen und Emotionen einen körperlichen Ausdruck verleihen.


Neugier 

Wie fühlt sich Sex mit jemandem an, der doppelt so alt ist wie ich? Sex in der Öffentlichkeit? Mit mehreren Menschen gleichzeitig? Mit einer Frau? Wie fühlt sich eine sexuelle Praktik an, die ich noch nie ausprobiert habe? Manchmal ist es eine Art Forschungsdrang, der mich zu sexuellen Handlungen motiviert: Do it for science. 

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