Als ich mit Mitte 20 meinen Mann heiratete, wusste ich, dass ich meine devote Neigung mit ihm nie ausleben würde. Ich hatte ihm nicht einmal davon erzählt, sondern nur zu Beginn unserer Beziehung vorsichtig abgeklopft, ob es da bei ihm vielleicht ähnliche Interessen gäbe - Fazit: 100% Vanilla. Weil aber alles andere so gut passte und ich so verliebt in ihn war, wollte ich unsere gemeinsame Zukunft nicht für so etwas (vermeintlich) triviales wie meine sexuellen Fantasien auf's Spiel setzen. Dazu kam natürlich, dass ich mit meiner eigenen Sexualität alles andere als im Reinen war und meine Neigung auch aus Scham verschwieg. Sieben Jahre lang unterdrückte ich also meine sexuellen Bedürfnisse um an der Beziehung festhalten zu können. Und es waren sieben intensive Jahre voller schöner Momente und großer Herausforderungen, die wir gemeinsam meisterten. Unsere Ehe war geprägt von enger Verbundenheit, tiefem Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung. Aber etwas fehlte. Und irgendwann musste ich mir eingestehen, dass BDSM für mich mehr war als ein sexuelles Abenteuer, das ich mit Anfang 20 eine zeitlang erforscht und dann abgelegt oder sogar "überwunden" hatte.
Die Zeiten, in denen BDSM in Forschung, Medizin und Psychotherapie grundsätzlich pathologisiert wurde, sind glücklicherweise vorbei [1]. Dennoch werden BDSMler auch heute häufig mit Vorurteilen und Stigmatisierung konfrontiert [2]. Die meisten von uns (inklusive mir) sind daher sehr vorsichtig wenn es darum geht, wem wir diese Seite von uns zeigen. Und klar könnte man jetzt fragen was daran so schlimm ist - Ich habe ja auch nicht das Bedürfnis, meiner Chefin von meinem neuen Vibrator zu erzählen oder Details aus dem Sexleben meiner Eltern zu erfahren. Manche Dinge sind eben privat und dürfen es auch bleiben. Was aber, wenn BDSM eben nicht als Hobby, sexuelles Abenteuer oder Fantasie erlebt wird, sondern als sexuelle Orientierung? Wenn es keine Wahl ist, sondern ein unumstößlicher Bestandteil der eigenen Sexualität? Dann bedeutet die Tatsache, dass ich BDSM verheimlichen (oder wie in meinem Fall) sogar ganz unterdrücken muss, nämlich auch, dass ich damit meine sexuelle Orientierung und somit einen zentralen Aspekt meiner Identität verleugne. Und in diesem Kontext hat das Gefühl nicht davon erzählen zu können eine ganz andere Tragweite. Es hat dann nichts mehr mit Privatsphäre zu tun sondern mit Verstecken, Unterdrücken und Scham. Es macht ja zum Beispiel für eine Gesellschaft und die darin lebenden Menschen auch einen Unterschied ob Homosexualität prinzipiell als persönliche Entscheidung (whatever that means) bewertet oder als sexuelle Orientierung anerkannt ist.
Mir ging es so, dass ich irgendwann den starken Wunsch verspürte, authentisch zu sein. Ich fühlte mich, als würde ich im falschen Leben feststecken und wünschte mir Echtheit. Diesen Wunsch konnte ich sogar schon genau so artikulieren, als mir selbst noch gar nicht klar war, dass er mit meiner unterdrückten BDSM Neigung zusammenhing. Ich drehte zunächst an allen möglichen anderen Stellschrauben, begann zu meditieren, setzte mich mit dem Thema Alkoholismus in meiner Familie auseinander, machte eine Fortbildung, wechselte den Job, las reihenweise Selbsthilferatgeber. Nichts half gegen dieses Gefühl, nicht wirklich ich selbst sein zu können. Bis ich beschloss eine Affäre zu beginnen, mir einen dominanten Spielpartner suchte und schon nach unserer allerersten Session wusste: Das ist es. Genau das hat mir die ganze Zeit gefehlt. Das bin ich.
In einem Paper aus 2019 wird zwischen zwei Ansätzen der Sexualforschung in Bezug auf BDSM unterschieden: sexual orientation, also eine nicht-optionale sexuelle Orientierung, und serious leisure, eine Freizeitaktivität, die mit besonderem commitment und Einsatz von Ressourcen betrieben wird [4]. Die Autoren schließen, dass beide Ansätze geeignet sind um mit BDSM verknüpfte sexuelle Identität zu erklären. In einer Studie aus den 90er Jahren, in der 184 finnische Männer (warum zur Hölle eigentlich nur Männer?) befragt wurden, gaben 77.8% der Befragten an, ihr Interesse an BDSM sei ihnen vor ihrem 25. Lebensjahr bewusst geworden. 9.3% der Befragten hatten bereits vor ihrem 10. Lebensjahr Interesse an BDSM bezogenen Themen [3], also in der Zeit der Adrenarche, eine Entwicklungsphase, die der Pubertät vorausgeht und während der eine Reifung des Sexualzentrums im Hirn stattfindet. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Meine BDSM bezogenen Erinnerungen reichen bis ins Grundschulter zurück. Schon mit 7 oder 8 Jahren lösten zum Beispiel Bücher, Filme oder Spiele, in denen jemand bestraft, gefesselt oder unterworfen wurde, ein ganz besonderes Kribbeln bei mir aus. Für mich ist das ein Hinweis darauf, dass meine Neigung ein fester Bestandteil meiner Sexualität ist, nicht optional und irgendwie eben immer schon da gewesen.
Ich finde den Ansatz BDSM als sexuelle Orientierung daher für mich persönlich passender. Gleichzeitig frage ich mich, warum mir das eigentlich so wichtig ist. Warum löst es in mir einen so großen Widerstand aus, wenn BDSM als Freizeitaktivität bezeichnet wird? Vermutlich ist es doch immer noch ein schambesetztes Thema für mich und ich hadere damit, meine Ehe und damit auch mein "heile Welt" Mama-Papa-Kind Lebensmodell aufgegeben zu haben, "nur" um meine Sexualität ausleben zu können. Da kommt mir die Erklärung von BDSM als sexuelle Orientierung natürlich entgegen, denn für meine sexuelle Orientierung kann ich ja nichts.
[1] Holvoet L, Huys W, Coppens V, Seeuws J, Goethals K, Morrens M. Fifty shades of Belgian gray: the prevalence of BDSM-related fantasies and activities in the general population. J Sex Med. 2017;14: 1152–9.
[2] Wright S. Survey of violence and discrimination against sexual minorities. Baltimore, MD: National Coalition for Sexual Freedom; 2009.
[3] Sandnabba NK, Santilla P, Nordling N. Sexual behavior and social adaptation among sadomasochistically oriented males. J Sex Res.1999;36:273–82.
[4] Sprott, R, Williams D. Is BDSM a Sexual Orientation or Serious Leisure? Current Sexual Health Reports 2019; 11: 75–79.
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